Bei einem Spaziergang in der Altstadt von Vilnius kommt man unweigerlich zur Universiteto-Straße an der Universität. Dort stößt man auf ein im Universitätsensemble verstecktes Observatorium, das eines der ältesten in Europa ist und auf die majästetischen Zeiten des Großfürstentums Litauen zurückreicht.

Beschreibung

Das Observatorium wurde 1753 vom Astronomen Tomas Žebrauskas und Elžbieta Oginskaitė-Puzinienė, der Tochter des berühmten Gutsbesitzers Michał Ogiński gegründet. Die Frau finanzierte den Gründungsentwurf des Observatoriums und setzte auf diese Weise die Schirmherrschaft der berühmten Familie Ogiński fort. Die Familie übten etwa 400 Jahre lang einen großen Einfluss auf das kulturelle Leben Litauens aus. 

Eine besondere Rolle in der Geschichte der Universität Vilnius spielte die Fürstin Elžbieta Oginskaitė-Puzinienė (1700–1768) – eine Vertreterin der berühmten litauischen Adelsfamilie Ogiński. Im Alter von 30 Jahren verwitwete sie und hat nie eine neue Familie gegründet. Sie finanzierte den Bau des Observatoriums der Universität Vilnius, das 1753 gegründet und das vierte in Europa wurde. Die Astronomie als moderne Wissenschaft hat sich erst Anfang des 17. Jahrhunderts herausgebildet. E. Puzinienė unterstützte nicht nur die Gründung des Observatoriums, sondern half auch beim Erwerb der notwendigen Ausrüstung, finanzierte das erste Praktikum des Astronomen Tomas Žebrauskas am Greenwich-Observatorium in London. Laut historischen Quellen interessierte sich die Vertreterin der Familie Ogiński professionell für die Astronomie, aber die Ausdrucksmöglichkeiten der Frauen im Großfürstentum Litauen des 18. Jh. waren beschränkt.

E. Oginskaitė-Puzinienė ist auf dem Türportal am Ende des prachtvollen Weißen Saales abgebildet. Auf seinem Tympanon befindet sich das Porträt von König Stanislaus August Poniatowski, über dem Giebel – zwei Skulpturen von sitzenden Damen: Diana und Urania. Diana hält nämlich das Porträt von E. Oginskaitė-Puzinienė. Es wird angenommen, dass es vom Maler Ignot Egenfelder in der zweiten Hälfte des 18. Jh. gemalt hat. Auf dem Porträt hält die Fürstin den von T. Žebrauskas erstellten Entwurf des von ihr gegründeten Observatoriums.

Das Observatorium der Universität Vilnius ist ein einzigartiges barockes Gebäude. Es wurde auf dem dreistöckigen Nordkorpus des Kollegiumsgebäudes errichtet. Außen sieht man die authentische Fassade des Gebäudes mit der Großen Halle. Seine Fenster sind mit verschiedenen Ornamenten und Gesimsen verziert. Die Südfassade des Observatoriums hat auch dekorierte Fenster, zwischen ihnen befinden sich Pilaster mit den Zeichnungen verschiedener astronomischer Geräte. In historischen Quellen wird erwähnt, dass das Vilniusser Observatorium viel hübscher war als das berühmte königliche Greenwich-Observatorium.

Die Größe des Gebäudes bestimmte die Dimensionen des großen Observatoriumssaals, der heute Weißer Saal genannt wird. Es ist ein geräumiger Raum mit vierzehn Fenstern auf beiden Seiten. In diesem großen Saal wurden ursprünglich astronomische Geräte aufbewahrt, wissenschaftliche Sammlungen ausgestellt, und wissenschaftliche Tätigkeit ausgeführt. Am Ende des Saals wurden zwei schlanke Türme geplant, die an die barocken Türme des Universitätsgebäudes erinnern. Die beiden Türme sind gleich und symbolisieren bis heute die Wissenschaft der Astronomie.   

Das Interieur des Observatoriums ist von Zurückhaltung geprägt. Hier gibt es keine Rokokoelemente, es dominieren gerade Formen: zierliche Gesimse, hohe Säulen. Das Innere des Observatoriums zeichnet sich durch beeindruckende Akzente aus – die Dekorelemente der Bögen verfügen über Voluten. Die Decke zieren dekorative Balken. 

1876 fiel das Observatorium einem Feuer zum Opfer, und 1882 wurde es auf Befehl von Zar Alexander III. geschlossen. Die meisten Geräte wurden an verschiedene Institutionen des Russischen Reiches verteilt. 

Der Hof des Observatoriums ist der älteste Hof des gesamten Architekturensembles der Universität. Die Wände der unteren Stockwerke stammen aus dem 15. Jahrhundert. Der Hof bildete sich im 16. Jh. während des Baus des Jesuitenkollegs, das 1570 seinen Betrieb aufnahm. Seine heutige Gestalt mit zugemauerten Arkaden auf allen drei Stockwerken erhielt der Hof im 17.-18. Jh. Damals wuchsen im Hof Heilkräuter, im Südflügel gab es eine Apotheke, später die Kanzlei und das Archiv der Bildungskommission Litauens.

Auf dem Platz neben den Universitätsgebäuden erhebt sich kontrastvoll die prachtvolle Fassade des Weißen Saals. Große Fenster mit klassischen Proportionen und verspielten Rokoko-Elementen zeugen davon, dass das architektonische Kunstwerk aus der Mitte des 18. Jahrhunderts stammt. Auf dem Medaillon über dem mittleren Fenster ist eine Sonne abgebildet, und über die   anderen Fenster – die sechs Symbole der damals bekannten Planeten, die davon zeugen, dass es hier ein astronomisches Observatorium gab. Die zwischen den Fenstern aufgetragenen Bilder der Geräte aus Mathematik, Physik, Astronomie, Geodäsie und Zeitmessung symbolisieren die Wissenschaften, die ihren Weg in diesen Saal fanden. Der Architekt des Gebäudes, Tomas Žebrauskas (1714–1758), war nicht nur der Astronom, Gründer des Observatoriums der Universität Vilnius, sondern auch Jesuit, Doktor der Philosophie und Geistwissenschaften, Professor der Mathematik. Tomas Žebrauskas studierte an der Akademie von Vilnius, in Wien und Prag. In Vilnius unterrichtete er Mathematik und exakte Wissenschaften, hat an der Universität die Lehrstühle für Physik und Astronomie gegründet, astronomische Beobachtungen durchgeführt. Er hat den geographischen Breitengrad von Vilnius bestimmt, die Prüfungsprogramme für Arithmetik und Geometrie in lateinischer Sprache ausgearbeitet. 

Heute steht das Observatorium jedem offen – das gepflegte Kulturobjekt kann bei einer Führung durch das Universitätsensemble besichtigt werden. Dabei wird nicht nur die Geschichte der Universität Vilnius vorgestellt, sondern auch auf die wichtigsten Persönlichkeiten, die schriftlichen Quellen und Geräte eingegangen.